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Bastian Schuhmann
Liebeserklärung an die Ortenau

 

 ISBN 978-3-88571-400-2
 246 Seiten
 Euro 17,90

 

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Leseprobe: Liebeserklärung an die Ortenau, S. 204–221

 

17. Auf närrischer Entdeckungstour

 

Fast ein ganzes Jahr ist vergangen, seitdem ich Ende April hier in Straßburg meine bescheidenen Zelte bei Claire aufgeschlagen habe. Eines ist mir seitdem bewusst geworden wie sonst kaum etwas, nämlich dass die Gepflogenheiten hier im Jahreslauf kaum Langeweile aufkommen lassen, dass die Menschen hier kaum Gefahr laufen, Trübsal zu blasen. Geradezu außer Atem könnte man kommen, wenn man an die vielen Bräuche, Festlichkeiten und kulturellen Veranstaltungen denkt, die einen hier über die Monate hinweg bei Laune halten, die mich gar in den Bann gezogen haben, weil sie oft erfrischend anders sind, als ich es aus meiner Heimat kenne.

     Kaum habe ich mich also durch die Weihnachtsfeiertage gehechelt und japsend den Jahreswechsel begangen, wird meine nicht immer unerschütterliche Ausdauer erneut auf die Probe gestellt, als spätestens nach dem Dreikönigstag die närrischen Hästräger in der Ortenau unterwegs sind. Zusätzlich zu all den über das Jahr verteilten Festen zählt sich so mancher Ort auf der badischen Rheinseite zu allem Überfluss auch noch zu den Hochburgen der überaus traditionsreichen schwäbisch-alemannischen Fastnacht, die seit einigen Jahren in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen ist. Gerne distanzieren sich daher die Badener mit ihrer von der UNESCO gewürdigten Straßenfastnacht und ihren musikbegleiteten Streifzügen durch die örtlichen Gaststätten vom niederrheinischen Karneval. Vom bayerischen Fasching sowieso.

     Auf jeden Fall geschehen ganz wundersame Dinge in den ersten Wochen des noch jungen Jahres: Ehedem zutiefst seriöse Menschen, verantwortungsvolle Väter, fürsorgliche Mütter, fleißig und pflichtbewusst ihrer Arbeit nachgehende Bürger verwandeln sich über Nacht in närrische, Schabernack treibende Figuren, streifen jegliche Vernunft und eine gute Portion ihres Verstandes von sich ab und ziehen in farbenfrohen Horden durch Dörfer und Städte, lauthals „Narri, narro“ krakeelend. Über die mit Konfetti überhäuften Straßen und Plätze der fastnachtstreibenden Orte sind fortan zahllose buntscheckige Wimpel und Bänder gespannt. In den Gaststätten werden die altehrwürdigen Holzbalken, sämtliche Fenster und Lampenschirme großzügig mit Papiergirlanden und Fransenborten in allen erdenklichen Farben dekoriert. Immer wieder ertönen Trompeten und Posaunen, begleitet von Triangeln, Pauken und Trommeln jeglicher Art, die von maskierten Gugge-Musi-kanten mit Absicht falsch bespielt werden und dennoch mit viel Sinn für harmonische Rhythmen. Einem karnevalistischen Motto folgende, verkleidete Menschengruppen bevölkern Busse und Bahnen auf ihrem Weg zum nächsten Fastnachtstreiben. Aufwändig gestaltete Fastnachtswagen bremsen den unmaskierten Autofahrer aus, ganze Ortsdurchfahrten werden gesperrt, wichtige Straßenverbindungen gekappt und durch großräumige Umfahrungen ersetzt. Die Bäckereien verkaufen Fastnachtsküchle mit allen denkbaren Glasuren und Füllungen. Und die Zeitungen sind voll mit Bildern von originellen Kostümen und ihren stolzen Trägern.

     Kurzum, die ganze Ortenau steht Kopf.

     Deren größte Stadt Offenburg sieht sich dabei nicht ohne Stolz als die Geburtsstätte der legendären Fastnachtshexe, die dort in den 1930er-Jahren entstanden ist. Mit einer holzgeschnitzten Maske vor dem Gesicht erinnert sie an Hexen, wie sie in vielen Märchen geschildert werden. Die Erfindung war jedenfalls so bahnbrechend, dass die Hexenfigur heute die Fastnacht im Südwesten dermaßen dominiert, dass ich bei von Zünften organisierten Straßenumzügen in Willstätt, Gengenbach, Biberach oder eben Offenburg ab und an die Kreativität der badischen Narren anzweifle.

     Entrüstet gab mir vor Kurzem eine ältere Frau, selbstverständlich als Hexe verkleidet, schroff zur Antwort: „Sie haben ja keine Ahnung! Das ist überlieferte Tradition. Da könnt ihr mit eurem bayerischen Fasching gar nicht mitreden!“ Zutiefst verächtlich spuckte sie das Unwort „Fasching“ aus, das in Baden für planlose Maskerade ohne jeglichen Bezug zu historischen Überlieferungen steht.

     „Mein Hexenkostüm trage ich bereits ein ganzes Leben lang. Sehen Sie sich meine Holzlarve an, wie aufwendig sie hergestellt ist und wie reichlich sie dekoriert ist!“

     Tatsächlich musste ich ihre Hexenmaske bestaunen, die sorgfältig eingeschnitzten Gesichtszüge, die liebevoll gestalteten Warzen auf der Nase, die furchteinflößend ausgearbeiteten Augen und die kreuz und quer stehenden Zähne.

     „Und jede Hexenlarve ist anders! Die Geschichten dahinter sowieso. In meiner stecken Erlebnisse von mehreren Jahrzehnten. Ein Einmal-Fastnachtskostüm, so wie man es bei euch handhabt, käme für mich nicht in Frage!“

     Die etwas verärgerte Frau schaffte es jedenfalls mit ihrem ganzen Stolz auf die hiesigen Hexentraditionen, dass ich den badischen Fastnachtsbräuchen fortan mehr Ehrfurcht entgegenbringe.

     „Und wenn Sie genau hinsehen, werden Sie auch viele andere Hästräger herumhüpfen sehen.“

     Gewiss, sie hatte recht. Ab und an fügen die farbenfroh ausstaffierten Narrenfiguren mit ihrem eingeschnitzten schelmischen Lachen dem bunten Treiben weitere Farbtupfer hinzu, wenn sie mit ihren Glocken heiter läutend an den Besuchern vorbeiziehen.

     Ebenso sind manche als Tiere oder Sagenfiguren verkleidet. Und immer wieder springt auch eine schaurige Teufelsgestalt zwischen den Hexen umher, listig dreinblickend aus ihrem fegefeuerverkohlten, glutroten Gesicht, bestückt mit fiesen Hörnern und verfinstert durch einen gruselig wuchernden Bart.

     Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die auf der Wolfacher Fastnacht herumgeisternden Nussschalenhansele. Von Kopf bis Fuß mit zahllosen Nussschalen bestückt, ziehen sie samt ihren gütig lächelnden Holzmasken ihre Bahnen durch die malerische Altstadt des Schwarzwaldorts. Oder die Bändelenarros aus Zell am Harmersbach, die über dem ganzen Körper Papierbänder in wechselnden Farben tragen und über dem Kopf ein holzgeschnitztes, grinsendes Männergesicht.

     Dennoch vermisse ich nach den vielen Straßenumzügen der Fastnachtszünfte die kreativ gestalteten Kostüme, wie sie in Bayern oft von kleineren Gruppen in aufwendiger Heimarbeit liebevoll genäht, geflickt und dekoriert werden.

     „Ich gehe schon seit Jahren auf keinen Umzug mehr. Hexen, Hexen, Hexen …“, pflichtet wenigstens Jürgen mir bei, wenngleich er sofort anmerkt, dass er dennoch früher ein großer Freund der alemannischen Fastnacht war und begeistert beim Spielmannszug mitgewirkt hat.

     „Aber ich weiß, mit wem du auf eine Straßenfastnacht gehen könntest, die ganz ohne Narrenzünfte und die üblichen Traditionen auskommt.“

     So stehe ich am Fastnachtssonntag um Punkt zwölf vor dem Kehler Rathaus und warte auf Jürgens Cousine. Susi hat ihm zugesagt, dass sie mich mitnehmen würde – nach Bodersweier, zu einer eher unprätentiösen Fastnacht im besten Sinne des Wortes. Mit kratziger Piratenperücke, einem federbestückten Dreispitzhut und bewaffnet mit einem Säbel warte ich nun geduldig auf meine Begleitung.

     Diese erscheint schließlich auch, gleich doppelt, denn von einem Augenblick auf den anderen stehen vor mir zwei frohgemute Frauen mittleren Alters, beide mit buntem Faschingshut, unter dem bei beiden schulterlanges, blondes Lockenhaar hervorquillt. Beide tragen bunt zusammengeflickte Umhänge, pechschwarze, überdimensionierte Sonnenbrillen und lilafarbene Glitzerhosen. Und beide grinsen mich mit ihren schmalen Lippen vergnügt an.

     „Nein, wir sind keine Zwillingsschwestern“, kommt Susi einer erstaunten Bemerkung von mir zuvor, „das ist Sabine, eine Freundin seit Kindesalter.“

     „Dann geben wir uns also dieses Jahr mit einem Bayern ab, der mal richtig Fastnacht feiern möchte“, bemerkt Sabine spitz und prüft mich dabei vom Scheitel bis zur Sohle. Sie hebt dabei ihre Augenbrauen so hoch an, dass sie in einem weiten Bogen hinter ihrer Sonnenbrille hervorlugen. Ganz willkommen scheine ich wohl nicht zu sein, fühlen sich die beiden offensichtlich gar bemüßigt, mich unwissenden Fremden zu einer beschwingten, badischen Straßenfastnacht mitschleppen zu müssen.

     „Das ist mal was anderes!“, schickt Sabine jedoch sogleich hinterher, als sie meine Unsicherheit bemerkt. „Bei uns ist je-der gern gesehen, sogar ein Bayer.“

     In meinem Gesicht macht sich ein erleichtertes Lächeln breit.

     „Dann lasst uns starten“, schießt aus Susi die Vorfreude heraus. Und nachdem beide ihre Sonnenbrillen zurechtgerückt und ihr lockiges Haar im mitgeführten Handspiegel geprüft haben, brechen wir auf in Richtung Bodersweier, einem Kehler Ortsteil.

     Dort positionieren wir uns in einer Nebenstraße, die der Narrenumzug als Erstes passieren wird. Doch kommen mir erste Zweifel, ob ich heute tatsächlich eine beschwingte Fastnacht erleben würde. Die Gehwege vor den Häuserzeilen sind keineswegs mit Zuschauern und Hästrägern bevölkert, teils gar menschenleer. Und die Straßen des Dorfes schmücken keinerlei Girlanden aus bunten Wimpeln, die einen üblicherweise flugs in Fastnachtsstimmung bringen. Etwas verloren stehen wir also da unter einem grauen Himmel, woran auch die weni- gen, zögerlich hinzukommenden Zuschauer nicht viel ändern.

     In diese eher bedrückende Stille platzt unversehens das Quietschen eines sich öffnenden Garagentors gegenüber. Augenblicklich tauchen drei mit bunt besprühten Overalls bekleidete Närrinnen auf, die Bierzelttische auf dem Gehweg platzieren. Wenig später türmen sich Amerikanergebäcke, ver-schiedene Kuchen, Nusszöpfe und mit Käse und Speck gefüllte Hefeschnecken auf den Tischen. Ein mittelgroßes Schnapssortiment, Eierliköre und Säfte zieren wenig später die reichhaltige Auslage und zahlreiche Plastikbecherchen liegen wild verstreut zwischen den süßen Naschereien bereit.

     Im Haus hinter uns öffnet sich ebenfalls die Haustür und mehrere Flaschen unterschiedlichster Couleur wandern auf die massiven Pfosten des Gartenzauns, wieder umringt von aufein-andergestapelten kleinen Bechern. Schräg gegenüber versammelt sich unversehens Schmalzgebäck in großen silbernen Schüsseln, flankiert von Thermoskannen randvoll mit frisch gebrühtem Kaffee und wärmendem Glühwein.

     Etwas ungläubig verfolge ich das unverhofft heraufziehende Schlaraffenland, wenngleich auch heute keinerlei Milch und Honig fließen sollten. Vorsichtig blicke ich zum Himmel auf, wo die tief hängenden Wolken gewiss gleich verführerisch kross gebratene Hähnchen auf direktem Weg zu uns herabschicken würden.

     Susi bemerkt meine staunenden Blicke sofort. „Da kannst du dich bedienen“, rempelt sie mich von der Seite an.

Und tatsächlich wird man hier in Bodersweier bestens bei Laune gehalten, man kann sich regelrecht durchprobieren und sich die selbstgemachten Köstlichkeiten schmecken lassen. Auf meine höfliche Frage, was ich schuldig sei, ernte ich stets nur ein Abwinken oder aber auch einen freundlich-unverblümten Seitenhieb auf meine nicht zu verleugnende Herkunft: Man würde hier selbst Zuflucht suchende Bayern durchfüttern, wenn Fastnacht sei.

     Das Schönste an der Großzügigkeit der Anwohner der Umzugsstrecke ist aber, dass man unmittelbar und ohne größere Hürden nehmen zu müssen, mit all den lebenslustigen Häs-trägern in spaßige und wunderbar spritzige Gespräche verwickelt wird. Im Nu ist man vertraut mit all den Fastnachts-treibenden rundherum, überaus herzlich aufgenommen, nunmehr bekannt in der gesamten Nachbarschaft. Wobei mir meine Schlagfertigkeit oft zugutekommt, wenn mal wieder arg ausgeteilt wird über das sonderbare bajuwarische Bergvolk, ihre seltsame Sprache und die offensichtlichen, bedauernswürdigen Brauchtumsdefizite jenseits der Grenzen der alemannischen Fastnacht.

     Bereits beschwingt von geistreichen Gesprächen und perfekt damit harmonierenden Getränken beklatschen und be-prosten wir den närrischen Umzug, dessen Teilnehmer mittlerweile vor unseren Augen durch die Straßen und Gassen Bodersweiers defilieren. Manche ziehen auch eher chaotische Bahnen durch das Dorf. Die Geradlinigkeit scheint davon abzuhängen, wie ausschweifend und ungezügelt sich die einzelnen Mottogruppen seit den Morgenstunden auf ihren Auftritt vorbereitet haben. Ausgewiesene Fastnachtspuristen würden den Kopf schütteln, wenn sie anstatt professionellen Narrenzünften und ihren geschnitzten Hexen-, Teufels- und Tiermasken den ungezwungen paradierenden Laiengruppen applaudieren müssten.

     Wir jedoch amüsieren uns vollends. Ausgebüchste wilde Tiere pirschen „Narri, narro“ rufend um detailverliebt gestaltete Safariwagen herum. Regenbogenmännchen mit Rokokostulpen werfen den jüngsten Narren am Straßenrand knallbunte Lutscher zu. Casinofrauen, deren Rocksäume mit Roulettezah-len und gewinnverheißenden Spielkartenmotiven bedruckt sind, verschenken indes reichlich goldene Schokotaler. Eine mit schweren Halsketten und dicken Armbändern behängte Zuhältergruppe lädt im Vorbeigehen zu einem feurigen Likörchen ein. Mausgraue Kanalratten tanzen wiederum durch die Zuschauergruppen und stiften dabei jede Menge Verwirrung mit ihren wattebauschigen, überdimensioniert langen Schwänzen. Derweil versuchen sich kräftig gebaute Männer mehr oder weniger graziös als Primaballerinen und lassen all die Tüllschichten ihres rosaroten Tutus wild auf- und abwedeln. Und immer wieder sorgen Spielmannszüge für eine gelöste Fast-nachtsstimmung.

      Als die letzten versprengten Narren auf der Suche nach ihren vorauseilenden Kameraden vorbeigezogen sind, setzen auch wir uns in Bewegung in Richtung Narrendorf, folgen dabei aber penibel der Wegstrecke, die auch der Straßenumzug genommen hat, hält sie doch weitere Verführungen bereit. So quatschen und blödeln und naschen wir uns vorbei an den fachwerkverzierten Bauernhöfen im Ortszentrum, loben artig beflügelndes Selbstgebranntes und schmackhaftes Frischgebackenes. Letzeres unabdinglich als Fastnachtsunterlage für all die bunten, hochprozentigen Verlockungen am Wegesrand.

     Es dämmert jedenfalls bereits, als wir endlich am Sportgelände angelangt sind, wo sich das halbe närrische Dorf schunkelnd, lachend und grölend versammelt hat, um den unbestreitbaren Höhepunkt des Jahres zu feiern. Und obwohl ab-soluter Neuling auf der Bodersweierer Fastnacht scheine ich   bereits dorfbekannt zu sein, so oft werde ich angestupst, mit einem heftigen Schulterschlag bedacht oder meinen bayerischen Dialekt imitierend begrüßt. Offenbar haben Susi, Sabine und ich mit unserer ausgiebigen Plaudertour durch den Ort bei vielen einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

     Jürgen sagte mir vorab, dass seine Cousine und Sabine überaus traditionsbewusst seien, seit langer Zeit bewährten Gepflogenheiten und bestimmten jahrelang begangenen Ritualen treu verbunden. So pflegen Susi und Sabine stets mit dem 19-Uhr-Bus zurück nach Kehl zu fahren und in einer griechischen Kneipe die Fastnacht ausklingen zu lassen. Die beiden könne man so präzise kalkulieren wie ein Schweizer Uhrwerk. Es sei auch guter Brauch, dass er selbst dort im Laufe des Abends quasi unangemeldet als „Überraschung“ dazustoße.

     Und tatsächlich werden meine beiden Begleiterinnen nun zunehmend wuselig, nesteln hibbelig in ihrem blonden Lockenhaar herum. Ich jedoch fachsimple seelenruhig mit einem über und über mit Ästen bestückten Waldmännchen darüber, warum gerade die Badener so kontaktfreudig sind. Immer häufiger und eindringlicher tippt mir Sabine an den Oberarm, bittet mich, meine hypothetischen Diskussionen zu beenden und in Richtung Bushaltestelle aufzubrechen. Dabei erörtern wir doch gerade ausführlich all die Gründe für die Umgänglichkeit der Leute hier. Wir dozieren über die Wirkung weinseliger Zusammenkünfte, die offensichtliche Neugier der Einheimischen Fremden gegenüber und über die positive Lebenseinstellung von Menschen, die in einem klimatisch begünstigten Landstrich leben. Susi und Sabine sind jedoch mittlerweile gar nicht mehr positiv gestimmt. Beherzt, ja geradezu forsch packen sie mich am Arm und schleppen mich aus dem Narrendorf in Richtung Hauptstraße.

     „Auf zum Bus! Mein Cousin kommt bestimmt wieder in die Kneipe auf eine Moussaka und ein Gyros. Er hat es gern, wenn sich gewisse Gewohnheiten nicht ändern“, erklärt mir Susi mit einem Augenzwinkern.

     Von lauter Traditionalisten umringt, bleibt mir also nichts anderes übrig, als zu kapitulieren. Da soll noch einer was über uns konservative, seltsame Brauchtümer pflegende Bayern sa-gen! Die meisten meiner Freunde von zuhause sind jedenfalls ein ganzes Stück weit spontaner.

     Zurück in Kehl eilen wir geradezu in Richtung griechischer Kneipe. Und da ich störrisch werden kann, wenn ich aus einer anregenden Unterhaltung gezogen werde, habe ich nun große Lust, meine beiden Begleiterinnen etwas zu piesacken. Sichtlich Spaß habe ich daran, unser Fortkommen etwas zu bremsen und die unterschiedlichsten Menschen anzusprechen – ob närrische Hästräger, mürrisch Dreinblickende oder eilig an uns Vorbeiziehende.

     Auf einmal tauchen zwei bildhübsche junge Frauen vor uns auf. Trotz Schweinchennase, pinkfarbener Perücke und abstehenden hellrosaroten Ferkelohren stehen die beiden ganz und gar verheißungsvoll vor mir. Verführerische, schokoladenglasierte Kuchenstücke, mit Glücksschweinchen aus Marzipan verziert, türmen sich als Auslage in ihrem Bauchladen. Ihrer charmanten Frage, ob ich denn kosten wolle, kann ich nicht widerstehen.

     „Aber nur, wenn du’s verträgst“, blinzelt mir die eine der beiden ganz hinreißend zu.

     In meinem Überschwang bleibt mir der Sinn der Frage gänzlich unklar. Ich greife rasch zu einem der harmlos aussehenden Stücke und verschlinge es ganz und gar ungezügelt im Nu.

     „Absolut lecker. Selbstgemacht?“, will ich wissen.

     „Darauf kannst du dich verlassen!“, kichern die beiden.

     Wieder stupsen mich Susi und Sabine unentwegt an, wollen mich weiterziehen, retten vor dem berauschenden Anblick zauberhafter Weiblichkeit, vor den betörenden Sirenen, die mich in den Abgrund ziehen wollen.

     „Willst noch ein Stück vor dem Schiffbruch, Pirat?“, sehen mich die zwei engelsgleich an.

     „Klar“, fließe ich dahin, vernasche ungestüm auch das zweite Stück.

     „Dann sieh zu, dass du gut nach Hause segelst“, lachen die beiden lauthals, drehen sich um und verschwinden tänzelnd mit ihren wild wedelnden Ringelschwänzchen in der Dunkelheit.

     Artig folge ich nun erneut Susi und Sabine, die ganz und gar minutiös und zielgerichtet weiterhin ihren jahrelang erprobten Zeitplan verfolgen. Und der sieht eben vor, dass Sabine vor dem Partyfinish in der griechischen Kneipe nun kurz ihren Hund ausführt. Geduldig warten Susi und ich unterdessen in Sabines Wohnzimmer.

     Susi ist auch sehr bemüht, mich bei Laune zu halten. Nur verliere ich inzwischen immer wieder den Gesprächsfaden, ertappe mich sogar, dass ich, statt Susi zu antworten, unentwegt die Szenerie um mich herum betrachte. Mein Blickt schweift zeitlupenartig vorbei an Schränken, Regalen, Sitzgruppen und Couchgarnituren. Alles kommt mir wie in einer endlosen Zeitschleife vor. Selbst die vergoldete Tischuhr auf dem Fenstersims scheint ein immer tiefer klingendes Ticken abzugeben, ihr Pendel sich immer behäbiger hin- und herzu-bewegen. Susi, die in den vergangenen Stunden stets unterhaltsam und amüsant war, langweilt mich nur mehr. Belanglos, geradezu nichtig kommt mir das Gespräch mit ihr nun vor. Meine Beschwingtheit ist einer tiefen Trägheit gewichen, meine Fröhlichkeit von Gleichgültigkeit verdrängt worden. Statt begeisternd aufgekratzt zu sein, fühle ich mich jetzt erdenschwer, kraftlos, schlapp, wie in Watte gepackt.

     „Wo bleibt denn Sabine so lange?“ Die Worte bringe ich nur mehr stammelnd heraus.

     „Sie ist doch gerade eben erst weg. Eine Viertelstunde müssen wir uns schon gedulden“, gibt Susi mir zur Antwort.

     Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor.

     In meiner Mundhöhle empfinde ich nun eine immer größere Trockenheit, die es mir zusehends schwer macht, leer zu schlucken. Mit staubtrockener Kehle wanke ich durch das Zimmer auf der Suche nach etwas Trinkbarem, doch kann auch ein riesiges Glas Mineralwasser das Gefühl des Ausge-dörrtseins nur kurz verschwinden lassen.

     Gefühlt Stunden später kommen wir in der griechischen Kneipe an, wo Jürgen bereits auf uns wartet. Teilnahmslos,   mit großen Schwierigkeiten, mich auf die gewiss humorvol-        len Gespräche zu konzentrieren, lehne ich starr an der The-  ke, entrückt von der ausgelassenen Fastnachtsfeier um mich herum. Wirre Gedanken ergreifen Besitz von mir, immer weniger nehme ich von meinem Umfeld wahr. Mein Kopf fühlt sich heiß an, obwohl ich meine, am ganzen Körper zu zit-  tern.

     „Ich muss kurz raus, mein Kreislauf …“, stottere ich Jürgen ins Ohr.

     „Bist du betrunken, Bayer?“, fragt er mich, nachdem er mir nach draußen gefolgt ist.

„Es fühlt sich nicht so an … Ich kann mir das nicht erklären“, antworte ich ihm stockend. „Normalerweise wirkt Alkohol auf mich belebend, er gibt mir Schwung. Und jetzt ist es, als ob meine ganze Freude von vorhin mit einem Schlag zunichte gemacht ist“, erkläre ich ihm unter großen Mühen.

     „Du musst ins Bett, deinen Rausch ausschlafen, Bub!“

     „Nein, fahr mich lieber ins Krankenhaus. Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten“, entgegne ich ihm.

     „Sag ich doch, ab ins Bett!“, beharrt Jürgen auf seiner gewiss nachvollziehbaren Meinung.

     Da ich aber nicht lockerlasse, holt er doch eilends sein Auto. Nur sehe ich wenig später durch das Seitenfenster das nächtliche Schimmern des Rheins statt des hell erleuchteten Schriftzuges der Notaufnahme. Jürgen hat offenbar entschieden, mich hinüber nach Straßburg zu chauffieren und bei Claire abzuliefern. Es ist ihm nicht zu verdenken, dass es ihm peinlich erscheint, mit einem scheinbar gewöhnlichen Angetrun-kenen im Kehler Krankenhaus aufzutauchen. Doch die Begegnung mit einer im Nu endlos besorgten, in der ganzen Wohnung herumwuselnden Claire hätte mir den sicheren Todesstoß versetzt.

     Aufgebracht, wütend, stinksauer, ja fuchsteufelswild soll ich gewesen sein, versichert mir Jürgen später. Jedenfalls habe er sofort kehrtgemacht – zurück nach Kehl zur Notaufnahme.

     Nach zwei Kochsalzinfusionen, mit stabilisiertem Kreislauf, dem zurückgewonnenen Zeitgefühl und der ärztlichen Bescheinigung, großzügig Cannabinoiden ausgesetzt gewesen zu sein, präsentiere ich mich Susi und Sabine etwas peinlich berührt, aber wieder einigermaßen hergestellt. Gewiss werden es sich die beiden genau überlegen, noch einmal mit mir Fastnacht zu feiern, sage ich mir.

„Natürlich waren das Haschkekse, die dir die aufreizenden Ferkel da angedreht haben.“ Susi ist ganz und gar nicht überrascht über die von mir feierlich verkündete Diagnose.

     „Sag bloß, das war das erste Mal?“, will Sabine mit weit aufgerissenen Augen von mir wissen.

     „Ja, habt ihr so was in Bayern nicht?“, schmunzelt Jürgen genüsslich. „Keinen Wein, keinen Münsterkäse, keinen Flam-menkuchen, keine Fastnacht, kein Cannabis. Ihr lebt ja hinterm Mond!“

     In der Tat musste ich erst eine badische Fastnacht in Kehl feiern, um mit der berauschenden Wirkung der Hanfpflanze Bekanntschaft zu machen. Brav, behütet bin ich aufgewachsen in einem konservativ-bürgerlichen Umfeld, zwar gewiss häufig auf ausgiebigen Feiern unterwegs, oftmals bierselig, manchmal auch angesäuselt. Aber Haschisch oder Synthetisches blieben stets unangetastet. Es wäre auch schade gewesen, finde ich, das Beschwingt-Aufgedrehte stets abzutöten und ins öde Apathische zu verkehren. Lieber beflügelt als gestutzt, lieber voll Energie als jeglicher Leidenschaft entleert.

     Es ärgert mich geradezu, dass dieser Tag voll Lebensfreude und großer Unbekümmertheit ein so abruptes Ende genommen hat, dass mir so harmlos erscheinende marzipanschwein-chenverzierte Kuchenstücke den Stecker der guten Laune gezogen haben.

     Einen Vorteil hat mein jungfräulicher Haschischkonsum mit anschließendem Krankenhausaufenthalt jedoch: Ich bin topfit am nächsten Tag, ohne jegliche Nachwirkungen von legalen und illegalen Drogen, sodass ich kurzerhand den Entschluss fasse, mit Sonjas Clique zu einem weiteren Stelldichein mit dem närrischen Treiben Badens zu gehen – und zwar nahe Herbolzheim auf der Nordweiler Straßenfastnacht.

Mit den Eindrücken eines wunderbar kunterbunten Umzugs, mit traditionellen Hästrägern und herrlich kreativen Laiengruppen, mit den Klängen der stimmungsvoll aufspielenden Guggemusikgruppen im Ohr und mit der wohltuenden Erinnerung an die vielen Freunde von Sonja, die mit mir erfrischend unterhaltsam den Fastnachtskehraus begangen haben, kehre ich im Zug still vor mich hin lächelnd spätabends zurück nach Straßburg.

     Ich fühle mich mittlerweile pudelwohl hier, munter zwischen dem Elsass und der Ortenau hin- und herwechselnd. Jenseits und diesseits des Rheins bin ich eingetaucht in viele Brauchtümer und Festlichkeiten, habe jede Menge Menschen kennengelernt, die der hiesigen, aufgeschlossenen Mentalität verbunden sind, habe genussvolle Streifzüge durch die Region gemacht, ihr terroir schätzen gelernt, habe geschlemmt und das Leben genossen.

     Doch nun nahen mit dem Beginn der Fastenzeit am heutigen Aschermittwoch der letzte Abschnitt und das baldige Ende meines Auslandsjahrs. Betrübt und wie gelähmt starre ich daher an diesem Morgen an die Decke meines Studentenzimmers, würde gerne die Zeit einige Monate zurückdrehen, all das Erlebte von Neuem entdecken, die vielen unbekümmerten Augenblicke noch einmal gebührend auskosten. Doch in wenigen Wochen muss ich das bunte Leben gegen die fahl ausgeleuchteten Lerntische der Regensburger Universitätsbibliothek tauschen. Spätestens Anfang Mai wird sich der sorglose Alltag eines Taugenichts voll Freiheiten und Vergnügungen verwandeln in ein angespanntes Vorbereiten auf die bedrohlich näher rückenden, jetzt schon Angst einflößenden Staatsexamensprüfungen.

     Erst Claire schafft es am späten Vormittag, mich aus meiner Lethargie zu reißen. Wild hämmert sie gegen meine Zimmertür: „Monsieur, immer noch verkatert? Es ist Frühling geworden. Raus in die Stadt!“

     Sie scheint verrückt geworden zu sein. Wir schreiben immer noch den Monat Februar, vorgestern in der Rosenmontagsnacht kam ich als fast erfrorener Pirat nach Hause und Claire lässt heute in mir Vorstellungen von flatternden Schmetterlingen, einem Meer von Blumen und duftendem Grün aufkeimen.

     Allerdings hat sie meine Neugierde geweckt, hatte sie ja bereits einmal recht mit ihren meteorologischen Prophezeiungen einer wochenlangen Gluthitze im letzten Sommer. Gespannt öffne ich also die Fensterläden und wochenlang ungekannte Helligkeit übermannt mich mit Wucht, lässt mich ungläubig aus dem Fenster blinzeln. Tatsächlich, die ersten Vögel melden sich nach Langem zwitschernd zurück. Die Straßburger haben ihre Fahrräder aus ihren Kellerverliesen zurück ans Tageslicht befördert. Und die hungrigen Kunden steuern wieder ohne dicke Winterjacken die Boulangerie-Pâtisserie gegenüber an.

     Alle Wehmut ist im Nu verflogen, in Windeseile bin ich angezogen, knalle die Wohnungstür hinter mir ins Schloss, höre Claire noch wegen des Frühstücks mir nachrufen, schwinge mich aufs Motorrad und begebe mich auf direktem Weg zur Sonnenterrasse des „Café Brant“ an der Place de l’Université – auf einen Café au lait, wohlig bestrahlt von der Frühlingssonne. Der erste im Freien nach den Entbehrungen des Winters schmeckt bekanntlich am besten! Auch wenn erst Februar ist, aber der Frühling gibt sich ein Stelldichein hier im Rheintal.

     „Der Frühling kommt von Südwesten“, pflegte mein Geographielehrer am Regensburger Gymnasium stets sehnsuchtsvoll zu sagen. Der gute Mann hat recht behalten.

     In den nächsten Wochen werden sich die noch kahlen Obstbäume auf den wieder ergrünten Wiesen rund um Oberkirch und Renchen ein duftendes, blütenweißes Kleid überziehen. Als Erstes stillen dann tausende Kirschbäume die Sehnsüchte nach dem Frühling. Auf löwenzahnübersäten Wiesen entlang der zahllosen Bäume, die wie Perlen an einer Schnur üppig in reinstes Weiß getaucht sind, kann man ihn erriechen. Feierlichen Schrittes wandelt man dann unter einem himmlischen Blütendach in einer prachtvoll verzierten Kathedrale der Natur, von der Sonne festlich ausgestrahlt und kühn getragen von recht gleichförmig in alle Richtungen emporstrebenden Verästelungen.

     Von den nahen Rebhängen aus betrachtet, scheint die stattliche, neugotische Kirche des Kirschendorfs Mösbach von dem welligen, weißen Blütenmeer ringsherum fast verschluckt zu werden. Beständig will sie sich behaupten gegen das Feuerwerk der blühenden Fülle – viertelstündlich mit vierstimmigem Glockengeläut. Auf dem Drei-Kirschen-Weg nebenan kann man dieses schäumende Meer staunend durchwaten, bis einem der verlockende Duft kulinarischer Köstlichkeiten rund um die Kirsche aus der weißen Gischt zurück ans Festland holt – direkt in den Hafen der irdischen Genüsse, die einen in den vielen Hofläden des Dorfes erwarten, an den quirligen Festtagen des weithin bekannten „Mösbacher Kirschblütenzaubers“.