http://www.buergerliche-werte.de/Morstadt/Morstadtdatenbank/Bilder/Morstadtsenkrecht-121012.gif 

 

 

 


Frédéric Hoffet
Psychoanalyse des Elsass
 

ISBN 978-3-88571-396-8

270 Seiten, 10 Abbildungen von Tomi Ungerer

Euro 24,90

 

 

 

Wie ticken sie, die Elsässer, unsere Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins, und warum? Das sind die beiden Fragen, die sich auch Frédéric Hoffet stellte, seines Zeichens selbst Elsässer, evangelischer Pfarrer, Autor und später auch Rechtsanwalt. Seine Berufe und Berufungen eröffnetem ihm einen besonderen Blick auf seine Landsleute, deren Eigenarten und Verhaltensweisen er nicht nur sich, sondern auch den  Lesern innerhalb und außerhalb des Elsass zu erklären sucht. Mit feinem Gespür für die elsässischen Befindlichkeiten hat er Antworten gefunden:    in der bewegten Geschichte des oft umkämpften Landstrichs, im Umgang Frankreichs und Deutschlands mit den Menschen, deren Heimat der im Wechsel eroberte Boden war, in den kulturellen Einflüssen der Vergan-genheit, die heute noch sichtbar sind, und in der elsässischen Psyche, die durch all das ihre besondere Prägung erfuhr.

             

Schon 1951 in Frankreich erschienen, liegt dieses bedeutende Buch über das Elsass und die Mentalität der Elsässer nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vor. Es hat bis heute nichts vor seiner Aktualität  und Gültigkeit verloren. Zeitgleich mit der deutschen Ausgabe erscheint es  in Frankreich im September 2021 bereits in 10. Neuauflage.

             

Die eigens zur ersten deutschen Ausgabe verfasste Einführung trägt  den Titel „Wurzelkabarett Elsass“ und stammt von Martin Graff, eben-falls Elsässer, der als erfolgreicher Autor, Filmemacher, Kolumnist und Kabarettist einem breiten Publikum bekannt ist.

             

Mit 10 Illustrationen von Tomi Ungerer.

 

image004                                               http://www.morstadt-verlag.de/Einstieg-Dateien/image022.gif




II. Psychoanalyse des Elsass

 

Schon wenn die Ursprünge eines Menschen zu vielschichtig sind, wirft ihn das aus der Bahn. Daher entwickeln sich Kin-der von Eltern aus unterschiedlichen sozialen Milieus selten harmonisch. So erklärt eine in religiöser Hinsicht gemischte Herkunft jene zwar reichen, aber zögerlichen und willensschwachen menschlichen Naturen, von denen André Gide[1] das frappierendste Beispiel ist.

     Der typischste Fall ist wohl der jener Menschen verschiedener Herkunft, deren gemischte Abstammung alle möglichen Beeinträchtigungen mit sich bringt, die sich auf psychischer Ebene niederschlagen. Diese Menschen, ob in den USA, in Mexiko und in Südamerika oder in unseren Kolonien, werden meistens von Komplexen geplagt, auch wenn sie häufig hochintelligent sind. Sie schwanken ständig zwischen ihren beiden Wesensarten hin und her, wünschen sich inständig, zur höheren der beiden zu gehören, und sind es doch nur zur Hälfte, während sie nicht mehr ihrem Ursprungsvolk angehören, über dessen kulturelle Wirkungskraft sie nicht mehr verfügen.

     Natürlich kann man höher entwickelte Völker nicht mit diesen Menschen vergleichen, die von ihrer Ursprungsnation losgelöst sind. Und doch gibt es schweizerische „Erschwernisfälle“ charakterlicher Art, so wie es belgische „Erschwernisfälle“ gibt, so wie es luxemburgische und kanadische „Erschwernisfälle“ gibt. Deren Wurzeln muss man in den unterschied-lichen Gefühlen von Anziehung und Ablehnung suchen, welche jeder Einzelne gegenüber den Völkern empfindet, zwischen denen er sich bewegt.

     Indessen wurden die Nachteile der gemischten Abstammung in diesen Ländern durch die Bildung neuer nationaler Einheiten abgefedert. Ein schweizerischer „Typus“ existiert ebenso wie ein belgischer „Typus“, ein luxemburgischer „Typus“ und ein kanadischer „Typus“, da die ethnischen und kulturellen Eigenarten miteinander verschmolzen sind.

     Gewiss wäre es im Elsass ebenso gekommen, wenn dieser Landstrich eine genügend lange Zeit der Ruhe erlebt hätte, in der sich eine solche Entwicklung hätte vollziehen können. So hätte sich ein elsässischer Mensch herausbilden können, der im Einklang mit seiner Komplexität wäre. Doch die Geschichte ließ dies nicht zu. Die ständig wechselnde Zugehörigkeit des Elsass hat die ursprünglichen Gegensätze noch hervorgehoben und gar auf die Spitze getrieben und ließ so den Menschen nicht einmal die Zeit, ihre Wunden zu lecken. Kaum war ein zerbrechliches Gleichgewicht erreicht, brachte ein neuer Krieg die Probleme wieder zum Vorschein, die man gelöst glaubte. Nicht nur, dass die Städte wieder zerstört waren, nicht nur, dass man wieder einmal das Beste seines Besitzes verloren hatte: Die Familien waren zerrissen, und man musste eine neue Sprache wiedererlernen, während sich die Hand einer neuen Polizei auf die legte, die gehofft hatten, etwas Frieden zu finden durch die Integration in eine Nation, die nun besiegt worden war. Die elsässische Seele war ein weiteres Mal in die Wirrnis gestürzt: Ihre Triebfedern waren gebrochen, ihre Wirtschaft im Chaos.

     Nachdem uns bewusst geworden ist, wie unterschiedlich die Elemente sind, die die elsässische Psyche bedingen, gilt es nun zu untersuchen, wie die Elsässer auf die Launen ihres beispiellosen Schicksals reagiert haben, welche Gefühle es bei ihnen hervorgerufen hat, welche Komplexe es geschnürt hat, und wie es ihren schwierigen Charakter und zugleich ihre unbestreitbare Klugheit erklärt.

 

Die große Angst der Elsässer, das zu sein, was sie sind,

und ihre Flucht vor der Dualität

 

Was geschah denn, wenn das Elsass einem anderen Land angegliedert wurde?

     Es ist oft gesagt worden, dass diese Provinz stets auf der Seite des Siegers stand. In Wahrheit stand sie genauso auf der Seite des Besiegten. Auf der einen Seite wurde es von dem Land, das es annektierte, als ein Teil seiner selbst betrachtet, und seine Einwohner wurden schlichtweg als Landsleute, die wieder heimkehrten, gesehen. Andererseits sah das Land, das es verlor, im Elsass ein Stück seines eigenen Fleisches und dachte traurig an alles zurück, was es in der Vergangenheit mit ihm verbunden hatte.

     Also waren die Elsässer für die Deutschen, als sie das Elsass besetzten, nichts anderes als Deutsche, deren Deutschsein zwar irgendwie in den Jahren der französischen „Besatzung“ gelitten hatte, die aber trotz allem Deutsche geblieben waren. Wenn dann die Franzosen an der Reihe waren, diese Provinz zurückzuholen, betrachteten sie deren Einwohner wohl zu Recht als unglückliche Landsleute, die ihrem Vaterland zurückgegeben wurden. Sie täuschten sich jedoch, wenn sie in ihnen Bürger sahen, die in allen Punkten den Provenzalen oder den Bewohnern der Dauphiné glichen, die man beispielsweise Italien zugeschlagen hätte. Indem man so die Dualität der Elsässer missachtete, leugnete man schlicht und ergreifend einen Teil ihres Wesens.

     Aber was noch schlimmer war: Sie wurden sogar dazu gezwungen, sich auf diese Art selbst zu verleugnen. In den schwierigsten Zeiten deutscher Herrschaft und ganz besonders zwischen 1940 und 1945 konnte einem das geringste Anzeichen einer profranzösischen Haltung ins Gefängnis bringen. War es in den französischen Epochen auch nicht wie da, so beweist der bedauerliche Prozess von Colmar leider doch, dass unser Land nicht immer seinen liberalen Traditionen treu blieb. Wenn ein Elsässer im Ruf steht, ein Autonomist zu sein, ob zu Recht oder zu Unrecht, und dies in den Polizeiakten vermerkt ist, kann das für ihn noch heute gravierende Folgen haben. So kommt es, dass ein Elsässer nie er selbst sein kann. Er muss immer eine Seite seines Wesens verbergen. Da er jederzeit über seine Vergangenheit Rechenschaft ablegen muss, befindet er sich unablässig in der Situation jener Franzosen, die irgendwie mit der Vichy-Regierung zu tun hatten. So war es auch 1918, als selbst die, die nie eine andere Herrschaft als die von Wilhelm II. gekannt hatten, ihr Verhalten vor den „Auswahlkommissionen“ rechtfertigen mussten. Als 1940 wieder die Deutschen ins Land kamen, musste man sich abermals reinwaschen, und jeder sah sich gezwungen zu zeigen, dass er zwischen 1918 und diesem Zeitpunkt so wenig französisch wie möglich gewesen war. 1945 wurde wieder in der Gegenrichtung gesäubert.[2] Es dürfte nun nachvollziehbar sein, dass   derartige Wechselfälle, wie sie sich zwischen 1870 und 1945 viermal wiederholten, die Psyche der Elsässer tief durchdrungen haben … Diese haben sich daran gewöhnt, jederzeit unter Verdacht zu stehen. Sie wissen, dass ihnen alles, was sie tun, und alles, was sie sagen, eines Tages zu ihren Ungunsten ausgelegt werden wird. Sie haben das Gefühl, dass sie nur zu reden brauchen, zu schreiben, zu atmen, um ihren potenziellen Gegnern Waffen gegen sich selbst zu liefern. Denn sie können sich nie des nächsten Tages sicher sein. Sie wissen, dass die Herrscher kommen und gehen und dass sie morgen wieder zu dem werden können, was sie gestern noch waren …

     All dies hat bei den Elsässern eine Furcht ausgelöst, die ihre Psyche beherrscht. Sie ist der Schlüssel zu ihrer Unschlüssigkeit, ihrem Schweigen, ihren ebenso unvermittelten wie unverständlichen Sinneswandeln. Diese Furcht ist sogar in ihren am gleichgültigsten erscheinenden Äußerungen versteckt. Sie prägt ihre verborgensten Haltungen. In ihr muss man die Erklärung für einige der bedauerlichsten elsässischen Charakterzüge suchen, wie etwa die Feigheit. Es ist diese erbärmliche, unendliche elsässische Feigheit, die einen Menschen, der sich eben noch für die gerechteste Sache der Welt begeistert hat, dazu bringt, diese Sache aufzugeben, ohne dass man seine Volte mit etwas anderem als der Furcht, seine Einstellung könne auf irgendeine Art politisch interpretiert werden, erklären kann. Man hat im Elsass beobachten können, und kann es noch heute dort beobachten, dass Freunde sich von ihren besten Freunden abwenden, Pfarrer oder Pastoren ihre Herde im Stich lassen, Anwälte die vornehmsten Fälle ablehnen und Brüder ihre eigenen Brüder verleugnen, und alles nur, um sich nicht gegen eine Autorität zu stellen, mit der aneinanderzugeraten man sich fürchtet. So sehr hat diese Urangst, die durch die Wechselfälle der Geschichte bei den Elsässern hervorgerufen wurde und die noch immer wie ein Reflex vorhanden ist, obwohl sie durch nichts mehr rechtfertigt wird, die Menschen erniedrigt und ihren Charakter abgestumpft.

     Doch das ist noch nicht alles!

     Die Furcht der Elsässer ist nicht bloß die Furcht vor den Gendarmen. Sie ist nicht nur die Furcht vor einer äußerlichen Gewalt, die sie bedrohen würde. Sie ist auch und überhaupt eine Furcht vor sich selbst.

     Denn unter dem Druck der Notwendigkeit, getrieben von den Bedürfnissen und oft auch vom Verlangen, machen sich die Elsässer die Zwänge des Siegers zu eigen. Kaum sind sie Deutsche geworden, wollen manche nie etwas anderes als deutsch gewesen sein. Kaum sind sie Franzosen geworden, haben die meisten nur den einen Wunsch, der darin besteht, französisch zu sein und immer nur französisch gewesen zu sein. Jedoch stellen beide irgendwann fest, dass sie etwas daran hindert, ganz deutsch oder ganz französisch zu sein. Sie verspüren in sich den Widerstand jenes Teils ihrer selbst, durch den sie genau das sind, was sie nicht sein wollen. Und sie gehen gar der Siegermacht zur Hand, um diesen Teil von ihnen, diese unerwünschte und verhasste Hälfte ihrer selbst, zu ersticken, zu verleugnen. Doch man geht nicht ungestraft gegen seine Natur vor. Etwas in ihnen wird sie bald daran erinnern, dass ihr Wunsch eine Schimäre ist. Besonders wenn sie Franzosen geworden sind und sie sich mit rührendem patriotischem Eifer selbst einzureden versuchen, dass sie nichts von den anderen Bürgern des Landes unterscheidet, bemerken sie plötzlich, dass sie weit weg sind von dem, was sie gerne wären: Eine Bemerkung über ihren Akzent, ein kränkender Hinweis auf ihre „ziemlich elsässische“ Art, Geschäfte anzugehen, alle möglichen Enttäuschungen in Paris oder anderswo lassen sie spüren, dass sie etwas anderes sind, als sie glauben. Meistens gestehen sie sich diese Gefühle jedoch nicht selbst ein: Sie bezeichnen die Wesenszüge, die sie von den anderen Franzosen unterscheiden, nicht als germanisch oder deutsch. Sie leiden im Stillen. Sie schämen sich. Sie fürchten sich. Es ist die große Furcht der Elsässer vor ihrer Dualität, ihre große Angst, zu sein, was sie sind.

     Aus psychologischer Sicht ist diese Art der Angst viel interessanter als die vor den Gendarmen. Denn während jene dort die Mutlosigkeit der Elsässer erklärt, ist diese hier die Ursache eines Phänomens, dessen Folgen viel gravierender sind: die Flucht des Menschen vor sich selbst.

     Denn der Mensch fürchtet sich vor seiner Angst. Er fürchtet den Grund seiner Angst, und so flieht er vor diesem Grund bis ans Ende der Welt, so wie Kain vor dem Blick des Allmächtigen floh. So fliehen die Elsässer vor dem Grund ihrer Angst, vor jenem Teil ihrer selbst, der mal französisch, mal deutsch ist, von dem sie nichts wissen wollen, vor ihrer Dualität. Sie verdrängen ihre Furcht ins Unterbewusstsein, doch die Furcht zahlt es ihnen heim. Sie wird umso wirksamer, je weniger man sie sich eingesteht. Sie tut ihr zerstörerisches Werk tief im Innern des Menschen und bringt die Empfindsamkeit aus dem Gleichgewicht, leitet das Urteilsvermögen in die Irre und macht die Ehrlichsten unfähig, die Wahrheit zu sehen. Sie ist die Wurzel aller elsässischen Komplexe.

     Die einfachste Form dieser Flucht der Elsässer vor sich selbst besteht für sie darin, ihr Land zu verlassen. Wie viele Elsässer haben nicht versucht, sich in milderen Breiten niederzulassen, der ständigen Kämpfe überdrüssig, deren Schauplatz es war, und bestrebt, ihren Kindern die selbst erlebte Zerrissenheit zu ersparen? Einige empfindsame Menschen unter ihnen leiden unsäglich unter dem, was andere mit Weisheit   annehmen. Gewiss hängt der Wunsch, einem überaus wechsel-haften und schwer erträglichen Schicksal zu entgehen, mit der andauernden Auswanderung zusammen, die im Elsass zu neuen Ländern und vor allem nach Amerika zu beobachten ist.[3]

     Andere Elsässer begnügen sich damit, sich innerhalb eines der Länder, die sich um das Elsass streiten, niederzulassen. Während die Auswanderung nach Deutschland schon immer schwach war, ist die nach den anderen französischen Departements eine fast permanente Erscheinung. Festzustellen ist auch, dass von den 300.000 Elsässern, die 1940 in den Südwesten Frankreichs evakuiert wurden, etwa 20.000 nicht in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Und es waren nicht nur praktische oder geschäftliche Gründe, die ganze Familien dazu bewegten, endgültig in den entlegenen Gebieten der Dordogne, des Puy-de-Dôme oder Südfrankreichs zu bleiben. Bei den meisten Elsässern, für die eigentlich die Heimkehr hätte Priorität haben sollen, zeigte sich ein anderes Motiv: „Wir haben genug davon“, empörten sie sich, „pausenlos Herrschaft, Sprache und Land zu wechseln! Wir wollen nicht, dass unsere Kinder wieder dieselben Erfahrungen machen müssen!“ Kann sein, dass die wenigen Elsässer, die sich nach der Befreiung dafür entschieden, im doch der Not ausgesetzten Deutschland zu bleiben, in dieser Beziehung ihren in Frankreich gebliebenen Landsleuten glichen. Sie entflohen wie diese ihrem Schicksal.

     Doch das ist nur die auffälligste Form der Flucht. Der Mensch ist ein so bewundernswert organisiertes Tier, dass er der Wirklichkeit entfliehen kann, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Die Intelligenz, die nur von wenigen für die Suche nach Wahrheit genutzt wird, versteht es, sich den menschlichen Neigungen anzudienen, um die Wahrheit den momentanen Bedürfnissen und Sorgen entsprechend zu verändern. Es gibt da geistige Formen der Flucht, die ebenso wirksam sind wie eine Auswanderung, die oft nicht möglich ist.

     Von diesen findet man ein frappierendes Beispiel bei den Juden in den westlichen Ländern. Wie die Elsässer leiden sie an einem veritablen „Dualitätskomplex“ und ertragen es nicht, unablässig zerrissen zu werden zwischen ihren jüdischen Traditionen und jenen, die zu ihren Traditionen geworden sind, hin- und hergerissen zu werden, weil sie eben seit Generationen Franzosen, Engländer oder Deutsche sind. Man kann beobachten, wie sie mit Eifer aufzeigen wollen, dass sie nichts von ihren christlichen Landsleuten trennt. Sie leugnen so die Rolle und gar die schiere Existenz der Volksgruppe, zu der sie gehören, und betrachten jegliche Anspielung darauf als ehrenrührig, obwohl sie die älteste und ehrwürdigste der Welt ist.

Bei vielen Elsässern begegnen wir einem ähnlichen Sachverhalt. Er ist nicht nur typisch für jene Sorte von „Hyperpatrioten“, von Chauvinisten, deren ganz besondere Psyche wir gesondert untersuchen müssen, nein, er hat bei weiten Kreisen der Bevölkerung zu so tief verwurzelten und kritikabweisenden Haltungen geführt, dass man kein Gehör findet, wenn man versucht, diese unbewussten Wurzeln freizulegen.

     Die große Furcht davor, zu sein, was sie sind, hat die Elsässer dazu gebracht, ein ganzes System an „Tabus“ zu errichten, mit denen sie die Wahrheiten bekämpfen, die sie verunsichern, das Offensichtliche, das sie kränkt.

     Erinnern Sie mal einen Straßburger oder Mülhausener Bürger daran, dass seine Großmutter württembergischer Abstammung war: Sie werden sofort auf eisiges Schweigen stoßen, wenn er nicht entgegnet, dass das nicht stimmt, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens im Elsass verbracht hat und dass sie nur für wenige Monate in Stuttgart oder Tübingen war, während Sie wissen, dass sie dort geboren wurde und gestorben ist. Und darauf hinzuweisen, dass er deutscher Soldat gewesen ist und sich gar einmal damit brüstete, Offizier in einem preußischen Regiment gewesen zu sein und das Eiserne Kreuz erhalten zu haben, ist gänzlich undenkbar. Aber hüten Sie sich ganz besonders davor, von seinem Akzent Notiz zu nehmen! Es gibt keinen Bereich, in dem er empfindlicher ist! Er würde es Ihnen weniger übelnehmen, wenn sie seine Mutter getötet hätten, als wenn Sie die Germanismen bemerkten, mit denen seine Rede noch immer gespickt ist, oder auf seine fremdartige Sprachmelodie hinwiesen.

     Auch wenn es sich hier um durchaus nachvollziehbare Tabus handelt, die die volle Nachsicht derer verdienen, die die Tragödie unserer Provinz begriffen haben, ändert sich das, wenn die Furcht des Elsässers, zu sein, was er ist, von seinem Geist Besitz ergreift.

     Wir haben bereits auf die Verbote hingewiesen, die dem Dialekt anhängen. Welchen Erfindungsreichtum hat man nicht aufgebracht, um zu beweisen, dass dieser nichts mit dem Deutschen zu tun hat! Um festzulegen, dass die Elsässer nicht zur „germanischen Rasse“ gehören, haben andere Wissenschaftler ganze Bücher voller Thesen geschrieben, bei denen man sich fragen kann, ob sie von Kabarettisten stammen! Einer von ihnen ließ einmal Schädelvermessungen durchführen und kam zu der Schlussfolgerung, dass die Elsässer Rundschädel hätten und deswegen mit den Arvernern verwandte Kelten seien.[4] Es gibt kein historisches oder kulturelles Thema, bei dem die Elsässer nicht versucht hätten, mit ähnlichen Absurditäten nachzuweisen, dass sie nichts von den anderen Franzosen unterscheidet.

     Ein solches System an Verboten, das es fertigbringt, bei zivilisierten Menschen den Realitätssinn zu verändern, und sie unfähig macht, objektiv zu urteilen, sobald ihre Komplexe ins Spiel kommen, ist symptomatisch für ein seelisches Ungleichgewicht. Es zeigt die starke Wirkung des ihm zugrundeliegenden Gefühls: der Angst!

 

 

 



[1] André Gide (1869–1951), 1947 Nobelpreisträger für Literatur. Sein Vater entstammte einer streng protestantischen Familie aus Südfrankreich, seine Mutter einer einst zum Protestantismus konvertierten Familie aus der Normandie. Gide schwankte zeitlebens zwischen beiden Konfessionen und zwischen Homo- und Heterosexualität.

[3] Die Elsässer sind besonders zahlreich in den Vereinigten Staaten vertreten, vor allem in New York und in Kalifornien. In einigen Städten wie Chicago und San Francisco gibt es sogar elsässische Vereine.