Auch
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist manches Kapitel seiner
Geschichte noch nicht geschrieben. Die Einberufung von Tschechen in die
deutsche Wehrmacht gehört dazu. Nur wenigen Experten ist diese Tatsache
überhaupt bekannt. In der breiten Bevölkerung, selbst in Tschechien, ist
sie weitgehend vergessen.
Die
Eingezogenen kamen aus zwei kleinen Territorien im polnisch-tschechischen
Grenzgebiet: aus Teschen und dem Hultschiner Ländchen. Beide gehörten
seit Oktober 1938 bzw. Oktober 1939 zum Deutschen Reich. Damit galt für
ihre männlichen Einwohner die deutsche Wehrpflicht.
Nach
dem Krieg wurden diese Soldaten von den tschechischen Landsleuten und
Offiziellen als Verräter diffamiert, ihre Schicksale wurden mit dem
Mantel des Schweigens bedeckt und dem Vergessen anheimgegeben. Die
Betroffenen hingegen, von denen einige noch am Leben sind, sahen und
sehen sich als „zwangsgermanisiert“ und „zwangsrekrutiert“.
Nun
endlich finden sie späte Anerkennung als wertvolle Zeitzeugen. Sie wenden
sich gegen das Vergessen. Acht von ihnen schildern ihre Erlebnisse an den
unterschiedlichsten Kriegsschauplätzen und in allen Waffengattungen in
diesem Buch. Es versteht sich als Beitrag zur Aufarbeitung eines
leidvollen Abschnitts der gemeinsamen europäischen Geschichte und zur
Vertiefung der deutsch-tschechischen Freundschaft und Zusammenarbeit.
Kompakte Darstellungen historischer Fakten, die
einen Überblick über die geschichtliche, politische und demographische
Entwicklung der beiden betroffenen Regionen geben, ergänzen das Werk.
Eine Einführung von Prof. Dr. Bernd Martin,
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Breisgau, stellt die Berichte der
einzelnen Zeitzeugen in den größeren historischen, historiografischen und
methodischen Kontext.
Herausgegeben mit freundlicher Unterstützung des
Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.

Leseprobe:
Tschechen in der deutschen Wehrmacht, S. 105–110
Flugzeuge habe ich schon als Fünfjähriger
geflogen. Ich habe Modelle von Doppeldeckern aus dem Ersten Weltkrieg
zusammengeklebt. Dazu brauchte ich nicht viel. Sperrholz, Pappe, Kleber und Farbe.
Mit Begeisterung habe ich die Abenteuer der Kriegspiloten und der Sportflieger
gelesen und habe sie aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten. Ich
verfolgte die Erfolge der damaligen Flugpioniere und träumte davon, dass ich
einmal den Atlantik, die Sahara oder sogar den Nordpol überfliegen werde. Im
Schulatlas habe ich mit roter Tinte die Flugstrecken meiner künftigen Flüge
eingezeichnet. Ich konnte die Flugstrecke und den Verbrauch berechnen. Einzelne
Abschnitte habe ich schließlich mit Angaben über die vorhergesagte
Lufttemperatur und die angepeilte Höhe über dem Meeresspiegel sowie die
Windstärke ergänzt. Das wurde später mein Schicksal.
Am
meisten bewunderte ich dabei die sowjetischen Flieger und die sowjetische
Technik. Ein wenig hing das mit der Erziehung zu Hause zusammen. Über die
Sowjetunion wurde nämlich bei uns überwiegend positiv gesprochen. Die Eltern
waren zwar keine Mitglieder in der Kom-munistischen Partei, sympathisierten
aber mit ihrem Programm und ge-hörten zu ihren Stammwählern. Mein Vater
arbeitete als Fabrikarbeiter und musste von seinem bescheidenen Lohn vier
Kinder ernähren. Als in den Dreißigerjahren die große Wirtschaftskrise kam,
verlor er seine Arbeit und beide Eltern waren einige Jahre arbeitslos. Wir
lebten in großer Not, ähnlich wie die Mehrheit aller Arbeiterfamilien um uns
herum.
Der naive Glaube an die
Sowjetunion
Über die Sowjetunion erzählte man damals unter
den einfachen Leuten, dass dort jeder Arbeit und Brot habe und dass die
Wissenschaft dort mit erstaunlichem Tempo voranschreite. Diese Illusion
belebten in der Öffentlichkeit auch linksgerichtete Intellektuelle, die
erhebliche Publizität in der Presse bekamen. Die besuchten die Sowjetunion und
schrieben darüber meistens nur in reinen Superlativen. In der Zeit der großen
Unsicherheit und Not mussten die Leute zwangsläufig den Illusionen glauben,
dass es sich „irgendwo“ – am besten „bei den slawischen Brüdern im Osten“ – erträglicher
lebt und dass auch sie sich schon bald „über etwas freuen könnten“.
In den
Zeitungen wurde zwar von der Hungersnot in der Ukraine, von den Moskauer
Monsterprozessen und vom politischen Terror geschrieben, doch eine Reihe von
Arbeitern und Intellektuellen weigerte sich, das zu glauben. Wir hielten das
nur für „bourgeoise Propaganda“ und verleumderisches Geschwätz. Dem Kommunismus
gegenüber kritisch waren nur die Leute auf dem Land, die Gewerbetreibenden und
selbstverständlich die Gläubigen. Die Übrigen waren von ihm entweder begeistert
oder sie betrachteten ihn als einzige mögliche Alternative. Das ist eine
historische Tatsache. Viele Tschechen glaubten damals naiv an die Sowjetunion.
Ich denke, dass auch im Jahr 1948 die meisten die angetretene kommunistische
Regierung zumindest tolerierten.
In Heften, die ich unter der Schulbank
versteckt hatte, habe ich in diesen Jahren über eine der damaligen Neuheiten in
Russland gelesen: das Fallschirmspringen. Ich träumte davon, mir Russland einmal
anzusehen. Ich würde über die Taiga fliegen und am 1. Mai springe ich mit dem
Fallschirm am Roten Platz ab, um Stalin die Hand drücken zu können. Diese
Träume – Flüge über der Sowjetunion – erfüllten sich mir ein paar Jahre später
tatsächlich. Aber unter ganz anderen Umständen, als ich mir das als Junge
vorgestellt hatte. Nach Russland kam ich, um dort anderen deutschen Flugzeugen
Deckung zu geben, die Bomben über russischen Stellungen abwarfen.
Meine
militärische Karriere begann aber im Jahr 1938 bei einem Artillerieregiment der tschechoslowakischen Armee in České Budějovice (Bud-weis). Ich kümmerte
mich dort um die Pferde, durchlief eine Schützenausbildung und fungierte als
Hornist. Ich hatte nämlich zu Hause in einer Wirtshauskapelle Flügelhorn
gespielt, was mir auch in der Armee zugefallen ist, und so habe ich ein
militäreigenes Horn bekommen. In der Kaserne habe ich dann beim Antreten auf
dem Horn geblasen.
Den Militärdienst fassten junge Männer
damals anders auf als unter dem Sozialismus oder in den Neunzigerjahren. Keine Schikane
und keine Langeweile, etwas Derartiges existierte damals nicht. In der Armee
hatten wir gute Verpflegung und kostenlose ärztliche Behandlung garantiert, und
ich denke, dass ich da nicht nur für mich selbst spreche, wenn ich sage, dass
uns der Militärdienst Spaß machte. Feldtelefone, LKWs, Schießen auf Holzscheiben,
das alles war für uns etwas Neues und es war für uns mehr eine Unterhaltung als
eine Pflicht. Und außerdem herrschte damals ein viel größerer patriotischer
Geist. Den Dienst nahmen schließlich auch die Sudetendeutschen ernst.
Vielleicht aus einem angeborenen Pflichtbewusstsein … Bei der Erfüllung
der anvertrauten Aufgaben waren sie außerordentlich zuverlässige und aufopferungsvolle
tschechoslowakische Soldaten – und zwar auch im Jahr 1938.
Schon kurz nach meinem Dienstantritt beim
militärischen Grundpräsenzdienst ging das Gerücht, dass Hitler nach Österreich
seine Zähne auch schon für die Tschechoslowakei schärfe. Wir waren alle
überzeugt, dass er sie sich an unseren Grenzbefestigungen ausbeißen würde.
Als die allgemeine Mobilisierung verkündet
wurde, erinnere ich mich, herrschte riesige Begeisterung. Aufrichtig. Alle
wollten kämpfen. Sofern sich jemand fürchtete, musste er das vor den anderen
lieber verschweigen. Es war nicht die richtige Zeit für mündliche Feigheitsbezeugungen.
Auch im Jahr 1968 herrschte eine so fantastische Atmosphäre wie damals. Wir
waren überzeugt, dass eine ganze Reihe von uns sterben würde, und vielleicht
würden das auch gerade wir selbst sein, aber trotzdem waren wir uns sicher,
dass wir das für unsere Nation und für unsere Republik machen würden. Vor allem
wir Jungen waren bereit, mit vollem Einsatz zu kämpfen.
Die
Mobilisierung 1938: Tschechen und Deutsche gemeinsam
Im
September verlegten wir mit unserer Artillerieeinheit von České Budějovice auf
die Höhen des Böhmerwaldes. Als Feldartillerie nahmen wir Stellungen erst auf
einer Linie einige Kilometer hinter den Befestigungen ein. Wir hatten die
Aufgabe, einzugreifen, falls es der Wehrmacht gelingen sollte, über den
Befestigungsstreifen vorzudringen. Man plante damit, dass, falls die Deutschen
durchbrechen sollten, in ihrem Rücken noch Befestigungen blieben, die von
unseren Soldaten weiter verteidigt würden. Wir erhielten genaue und
detaillierte Instruktionen, aus welcher Richtung der deutsche Angriff auf
unsere Stellungen zu erwarten war und auf welche Weise wir reagieren sollten.
Ziel war es, die Deutschen unter Kreuzfeuer von vorne und von beiden Flanken zu
bekommen.
Unsere Einheit bestand überwiegend aus Jungs aus tschechischen Ge-bieten, tschechischer und deutscher
Nationalität. Die Sudetendeutschen bildeten in unserer Einheit etwa ein Drittel
der Mannschaft. Bis heute habe ich keine Ahnung, was sie über die damalige
Situation wirklich dachten, aber wie allgemein bekannt ist, kamen fast alle den
Einberufungsbefehlen nach und traten mustergültig den Dienst in der tschechoslowakischen
Armee an, die sich gerade anschickte, gegen Deutschland zu kämpfen. Unter ihnen
waren eine Menge guter Leute, die sich uns gegenüber als Kameraden verhielten.
Wir schliefen gemeinsam auf einer Stube, spielten Karten, teilten unsere
Zigaretten und die Seife, man konnte mit ihnen über alles reden. Sie lachten
über unsere Hitlerwitze oder erzählten selber welche. Umso überraschender war
es für mich, mit welcher Freude sie ein paar Tage später ihre Waffen wegwarfen
und mit Begeisterung fortliefen, um die Wehrmacht zu begrüßen. Ich begriff,
dass dies ihre wahre Armee war, und nicht die unsere.
Aber nicht
alle waren so. Einige reagierten auf die Nachricht von der Räumung der
Befestigungen und dem Rückzug ins Hinterland mit Tränen in den Augen, ähnlich
wie die Mehrheit der Tschechen. Es waren unter ihnen auch ausgesprochene
Fanatiker, hauptsächlich Kommunisten und Sozialdemokraten. Andere wiederum
reagierten wie Automaten, an denen man das Programm wechselt: zu den Waffen für
die Tschechoslowakei, Waffen nieder, mit Hurra in die Wehrmacht … Alles
machten sie mit maximalem Einsatz, wie man es ihnen befahl. Von manchen
Sudetendeutschen haben wir schon während der Mobilisierung vermutet, dass sie
insgeheim Nazis sind und dass sie uns hassen. Sie bemühten sich zwar, sich
loyal zu geben, paktierten aber nur untereinander, und es ging Angst von ihnen
aus. Wir glaubten, dass sie in der Lage wären, uns bei der ersten sich bietenden
Gelegenheit den Dolch in den Rücken zu stoßen.
Im Allgemeinen kann man sagen, dass wir
von den Sudetendeutschen in tschechoslowakischer Uniform unterschiedliche
Eindrücke hatten. Einige schienen zuverlässig zu sein, waren es in Wahrheit
aber nicht, andere standen fest an unserer Seite und wieder andere waren
feindselig eingestellt. Aber Ungarn, Ruthenen
und schließlich auch die Slowaken, das war eine andere Angelegenheit! Ich weiß
nicht, wie das anderswo war, aber die, die ich während der Mobilisierung
kennenlernte, hatten an der Verteidigung irgendeiner für sie fremden Tschechoslowakei
einfach kein Interesse. Ein Slowake zum Beispiel schrie ständig herum, dass er
„doch nicht für fremde Herren sterben“ werde. Die Ungarn benahmen sich
hochnäsig und sprachen nur unter ihresgleichen miteinander. Gab man einem von
ihnen einen Befehl, spielten sie den tölpelhaften Analphabeten. Sie führten
sich auf, als kapierten und wüssten sie von nichts. Ein Gespräch mit ihnen gab
es nicht. Ich denke, sie konnten uns nicht leiden. Möglicherweise fühlten sich
viele Ungarn und Slowaken in unserer Armee ähnlich, wie sich unsere Väter im Ersten Weltkrieg in der österreichischen Armee
gefühlt hatten. Selbstverständlich kann ich nur die beurteilen, die ich selbst kennengelernt
habe. Ich kann kein generelles Urteil über sie abgeben und ich weiß nicht, wie
die Erfahrungen mit ihnen in anderen Einheiten waren. Bei uns war auch ein
Rumäne aus der Karpato-Ukraine, und der war wie-derum ein ausgemachter
Tschechoslowakist, obwohl er weder auf Tschechisch noch auf Slowakisch auch nur
ein Wort verstand. Ähnlich republiktreu war auch ein Offizier russischer
Nationalität aus der Nach-November-Emigration (nach der bolschewistischen
Revolution in Russland im November 1917).
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